Restaurant Algarve
Damals Anfang 2004, als der Wirt der Algarve auf die Idee kam, sein bis dato beschauliches Etablissement in eine wahre Schaubude zu verwandeln. Anlaß war die in seinem Heimatland Portugal ausgetragene Fußballeuropameisterschaft, wohlgemerkt bevor zur WM 2006 das schwarzrotaufgegeilte Public Viewing überhaupt erfunden worden war.
Wir standen der ganzen Sache von Beginn an äußerst skeptisch gegenüber. Unsere stammgastronomische Verpflegungsstätte sollte sich in einen beamerbelichteten Flimmerkasten verwandeln? Zwar waren wir alle bemüht, jegliches Dandytum – wie sie eine gewiss volksferne Fußballverachtung gewiss mit sich brächte – zu vermeiden und gaben uns deshalb ballsportinteressiert, wenn schon nicht -fanatisch, aber dann doch bitte nur mit lokalcoloriertem Anstrich. Nationalmannschaft, nein danke.
Also trommelten wir aus allen Herrgottswinkeln Wiesbadens Aktivisten zusammen, auf daß sie sich an die ochsenblutigen Dielen des Algarvendlandes ketteten, um den drohenden Umbau des Abendlandes – oder zumindest seines asylsüchtigen bis gastarbeitenden westlichsten Landzipfels – zu verhindern. Denn in Erwartung ungeheuerlicher Menschenmassen ließen die Baupläne des plötzlich praktisch veranlagten Wirtes das Schlimmste befürchten. Die Fenster würden nur das TV-Bild störendes Sonnenlicht hereinlassen und deshalb zumindest an der Südwand des Gastraumes zugemauert werden; überhaupt sei die so entstehende massive Wand als eine Hommage an das Felsenstadion von Braga zu verstehen. Der ohnehin schwer zu reinigende Holzfußboden sollte kärcherstrahlenbeständigen Kacheln weichen. Wir besetzen derweil die Baustelle in spe und stimmten dabei “Es gibt ‘Das Todesjahr des Ricardo Reis’, Baby” im Kanon an. Schönes Mädchen, schüttle Deinen Kopf für uns.
Der Wirt ließ in der Folge nichts unversucht, uns umzustimmen. Nachdem gutes Zureden nicht fruchtete, probierte er es mit Bestechung. Aber welche Spezialitäten der portugiesischen Kulinaristik er auch gratis auffuhr, er kassierte stets eine Abfuhr. Dann wollte er uns mit Alkohol gefügig machen, doch weder Super Bockbier, noch Vinho Verde und selbst erlesenste Portweinjahrgänge halfen – wir blieben standhaft bei unserer Sitzblockade. Nach dem Zuckerbrot dann der Strategiewechsel zur Peitsche: Fado-Dauerbeschallung, immer wieder Madredeus, den Soundtrack von ‘Lisbon Story’ bis zum Abwinken. Wir waren raus.
“Es gibt eine seelische Niedergeschlagenheit, die weitergehender ist als alle Angst und aller Schmerz; ich glaube, sie ist nur denen bekannt, die Angst und Schmerz meiden und sich selbst gegenüber so diplomatisch sind, ihrem eigenen Überdruß aus dem Weg zu gehen. Da sie auf diese Weise zu gegen die Welt gepanzerten Wesen werden, verwundert es nicht, daß sie in Momenten der Bewußtwerdung plötzlich die ganze Last ihres Panzers wahrnehmen und das Leben als eine umgekehrte Angst, als einen nicht erlittenen Schmerz.”
(Fernando Pessoa, Das Buch der Unruhe)
Wochen späteritum: Das ganze Vorhaben floppte vor allem in gastwirtschaftlicher Hinsicht grandios, zu so gut wie jedem Spiel blieb die Algarve leer. Einzig zu den Spielen ihrer Mannschaft kamen die stämmigen Portugiesen sowie die Portugiesischstämmigen. Wir sahen uns die EM aus pflichtgefühlter Trotzigkeit woanders an, nach dem Ausscheiden Deutschlands in der Vorrunde waren wir hellassichtig von einer albernen Sportsbar im Westend in ein griechisches Restaurant umgezogen, um dort die Spiele der Finalrunde zu verfolgen. Hier gab es zwar für jedes griechische Tor eine Runde Ouzo aufs Haus, bei der defensiven Spielweise der meisterlichen Rehagelelf reichte das allerdings bei weitem nicht, um davon betrunken geworden zu sein.
Tage nach dem Endspiel lief ich scheinbar zufällig den Kaiser-Friedrich-Ring entlang, als ich den Wirt vor der offenen Tür der Algarve erblickte. Im selben Moment schaute auch er vom Fegen des Bürgersteigs auf und sah mich an. Wortlos bat er mich einzutreten, ebenfalls nur mit einer Geste wies er mir einen Tisch an. Als er, immer noch ohne einen Ton von sich gegeben zu haben, in die Küche verschwand, ließ ich meine Augen durch den kaum wiederzuerkennenden Gastronomiebetrieb wandern. Schadenfreude wollte sich bei mir nicht einstellen, aber auch kein Mitleid. Mit einer Gitarre an der Wand, ein paar Fischernetzen und ähnlichem Kram war mehr schlecht als recht versucht worden, die gröbsten Bausünden zu übertünchen.
Ich schob die Speisekarte quer über die hässliche Tischdecke weit von mir.