Zum Vorwort des Romans
Neu-Atlantis steht am Ende von Bacons Experimentensammlung Sylva Sylvarum. Bereits 1624 geschrieben, ist es erst ein Jahr nach seinem Tod erschienen, herausgegeben von seinem Kaplan Dr. William Rawley, der in seinem kurzen Vorwort die Intention des verblichenen Autors zu verdeutlichen versucht. Danach ist es Bacons Absicht gewesen, auch der Gesetzgebung und besten Staatsverfassung einen besonderen Abschnitt zu widmen, doch gleichzeitige Arbeiten an seiner Naturgeschichte und anderen Teilen seiner Instauratio, zuletzt der Tod ließen Neu-Atlantis Fragment bleiben. So beschreibt dieser Text als Grenzfall zwischen Wissenschaft und Literatur1 („Fabel“ oder „Utopie“) vor allem die soziale Struktur der Insel2 und die dort herrschende Wissenschaftstheorie. Auch wisse der Verfasser, daß sein Vorbild nicht in allen Dingen verwirklicht werden kann, aber die Menschen sollten nicht daran zweifeln, daß dieses Ziel irgendwann doch erreicht werden wird. Das Beschriebene dient somit als Modell für eine sehr weit entfernte, doch letztlich erreichbare Realität.
Rein äußerlich stellt Neu-Atlantis einen romanhaften Reisebericht dar, wie sie im 17. Jahrhundert besonders beliebt und verbreitet waren und in Swifts ‘Gulliver’ ihre Krönung fanden, die Gattungsspanne reicht von der Belehrung bis zur Unterhaltung. Doch bei genauerer Betrachtung häufen sich die Anzeichen hier, mehr als in den anderen Renaissanceutopien mit philosophischem Anspruch, daß es sich letztendlich um eine Zeitreise handelt, in eben dieses Modell einer entfernten Realität, eine futuristische Technikprophezeiung unter in Bezug auf die Technik kaum geänderten gesellschaftlichen Vorzeichen, von der bestimmte Elemente noch heute in unoriginellen Science-Fiction-Büchern auftauchen. Auch später noch wird die Tatsache oft unterschlagen, daß mit dem Anwachsen des – nicht wertend gemeinten – materiellen Fortschritts sich auch das Verhältnis von Mensch und Technik, und somit die Gesellschaft als solches, ändert.
Direkte Anregungen sind für Bacon sicher die Essays von Montaigne mit ihrem sanften Skeptizismus gewesen sowie Campanellas ‘Sonnenstaat’, aus dem er Einzelheiten wie Erziehung, Ackerbau und Wissenschaftspflege übernommen hat, und Thomas Morus´ ‘Utopia’, obwohl er dessen soziale und politische Ideen, welche ein Änderung des Staatswesens durch Sozialreform beabsichtigen, abgelehnt hat.3 Ihm hat eine Besserung der wirtschaftlichen Lage durch wissenschaftliche Aufklärung gereicht.4 Besonderes Vorbild ist auch die ‘Politeia’ Platons, der die Insel ja schon namentlich in seinen Schriften erwähnt hat.5
Der Fortschrittsbegriff
Das Spannungsverhältnis des offensichtlichen Gegensatzes von Fortschritt als stetiger Veränderung hin zum langsam Besseren und Utopie, welche einen Entwurf des unter bestimmten Umständen plötzlich am Besten darstellt, findet bei keinem der anderen Gesellschaftsentwürfe aus der Renaissance eine so große Berücksichtigung wie bei Bacon in Neu-Atlantis. Futuristische Technikbeschreibungen sind natürlich auch bei anderen Autoren in großer Zahl vorhanden, doch wird ansonsten in den seltensten Fällen auf die Möglichkeit noch weitreichenderer Erkenntnisse eingegangen. Die sich hier stellende zentrale Frage ist diejenige nach dem quantitativen Kontingent des Wissens und der Unendlich- beziehungsweise Endlichkeit des Fortschritts, die Frage nach der Existenz einer Grenze des Möglichen.
Die Definition des Wortes Fortschritt fußt seit langem allgemein akzeptiert auf der Basis von Veränderung und läßt sich in zwei Kategorien einteilen, Fortschritt durch Veränderung, 1. ohne menschlichen Einfluß (wobei hier nicht zwischen Gott, Natur, Schicksal, Zufall etc. unterschieden werden kann) und 2. mit menschlichem Einfluß. Durch das Vornehmen dieser Einteilung wird die Konkurrenzsituation des Menschen zur anderen Kategorie, dem seinem Einfluß Entzogenen, vorweggenommen, ja positivistisch herausgefordert. Es ist der – rückblickend von vielen als recht zweifelhaft angesehene – Verdienst solcher Renaissancedenker wie Bacon, an der Schwelle zur Neuzeit, den zweiten zu Lasten des ersten zu betonen. Das Gewahrwerden der eigenen Möglichkeiten impliziert zugleich deren Zielsetzung, ihren Einsatz zur Verschiebung des Kräfteverhältnisses der Einflußsphären zugunsten der menschlichen Seite. Der daraus resultierende Bruch zwischen Mensch und Natur ist ein bleibendes Merkmal der heutigen Zeit.
Der Maßstab der – zumindest als solcher empfundenen – Verbesserung bringt erst die Einteilung auf der Grundlage von Veränderung hervor. Die Voraussetzung dafür ist „das Vermögen der Vernunft, Erkenntnisse und Handlungen nach Ideen zu regulieren. Der Fortschritt erscheint also als Handlungskonsequenz der vernünftigen Selbstbehauptung gegenüber dogmatisch oder faktisch legitimierten Denk- und Handlungsanforderungen“ (Goethe6).
Diese Bedingung der Möglichkeit von Fortschritt enthält zugleich die Begrenzung des intellektuellen Leistungsvermögens, falls die regulative Kontrolle durch die Vernunft im Zuge zunehmender Effektivitätsorientierung schwindet. Die Grenzen der reinen Vernunft dürfen nicht verwechselt werden mit der Beschränkung des Verstandes und somit eintretendem Rationalitätsverlust auf Grund mangelnder Reflexion darauf, ob man auch all das tun soll, was man tun kann. Diese Differenz ist eine weitere Folgelast für die Neuzeit; die auch in Neu-Atlantis behandelte Verantwortung des Wissenschaftlers vor der Gemeinschaft und sich selbst ist seitdem ein geistesgeschichtlich relevantes Dauerthema und findet sich in der Literatur7 vom Doktor Faustus über den Frankenstein-Mythos bis zu Dürrenmatts Physikern.
Die Vergegenständlichung der Macht
Durch eine Anhäufung von Einzelereignissen wie der Entdeckung Amerikas, der Reformation und verschiedener wissenschaftlicher Erkenntnisse, etwa der, daß astronomisch betrachtet die Sonne den Mittelpunkt unseres Planetensystems bildet, ist die alte Ordnung schließlich im Ganzen kollabiert. Den letztendlich daraus resultierenden Siegeszug von Empirie und Rationalismus hat unter anderem Francis Bacon maßgeblich mit auf den Weg zu bringen geholfen, indem er versucht hat, die Regeln für den oben erwähnten Maßstab der Erkenntnis, deren Gewinn er mit Fortschritt gleichsetzt, festzulegen. In dieser neuen „Dynamik des Denkens“8, welche die Anhäufung von Wissen und die geistige Ebene der es herstellenden Gesellschaft, oder mit Goethe: die Ideen, miteinander verbindet, sieht Bacon damals freilich nicht die Möglichkeit einer Verselbständigung von Technik, die für ihn bloßes Mittel ist.
Die Schilderung des auf der Insel Neu-Atlantis liegenden Staates Bensalem zeigt eine idealtypische und widerspruchsfreie wissenschaftlich-technische Gesellschaft; das philosophische Rüstzeug für die Reise dorthin hat Bacon selbst in seinem Novum Organon niedergelegt. An dieser Utopie läßt sich ein Zusammenhang zwischen der Welt, wie sie dort entworfen wird, und dem Verfahren der Theoriebildung, die diesem Entwurf zugrunde liegt, herstellen.
Das Prinzip des Herstellens wird in Bensalem auf drei verschiedenen Ebenen handlungsleitend:
-
1. auf der individuellen Ebene: durch die Tätigkeit des Homo faber;
2. auf organisatorischer Ebene: in Form der Technologie;
3. und auf politischer Ebene: in Form eines Gesellschaftsmodells, welches Stabilität und Ordnung garantieren soll.9
zu 1)
Die Definition des Menschen in Neu-Atlantis ist vorwiegend die des Werkzeugmachers und Herstellers von Gegenständen, seine Tätigkeit vollzieht sich in der Verdinglichung, denn als neuer Schöpfer der Welt kann er sein Geschäft nur verrichten, indem er sich die Natur zuerst aneignet, um sie dann nach seinem Modell umzuformen. Der Herstellungsprozeß ist von der Zweck-Mittel Kategorie bestimmt; das hergestellte Ding ist ein Endprodukt, weil der Herstellungsprozeß in ihm an ein Ende kommt und ein Zweck, zu dem der Herstellungsprozeß selbst nur das Mittel ist.
Die Umformung der Natur zur Steigerung der subjektiven Lebensqualität geht mit der Hilfe von eigens erfundenen Werkzeugen vor sich. Eine Extremform dieser Gerätschaften zur Kontrolle und Beherrschung der Umwelt bildet sicher die Gattung der Waffen, doch kann man dieses Charakteristikum in mehr oder weniger direkter Weise bei sämtlichen von Menschen produzierten Werkzeugen feststellen; jegliche Benutzung von Werkzeugen kann als eine Form von Machtausübung und damit der Unterwerfung von Wirklichkeit interpretiert werden.
Für die von Bacon propagierten Ziele waren die aus dem Mittelalter stammende Arbeitsweise, das Handwerk, und seine Organisationsstruktur ungenügend.
“Einfache Hand-Werkszeuge konnten lange Zeit als Verlängerung und Bündelung von Organen, von Sinnlichkeit verstanden werden, ihr Gebrauch setzte Fähigkeiten und Übungen des Körpers voraus; es kam auf den einzelnen an und auf ein gutes einzelnes Gerät. Das Werkzeug und sein Verwender sind noch etwas Besonderes … Typisch ist auch der Kult um das geheime Wissen, welches von denen, die ein Handwerk betrieben, gepflegt wurde. Die mittelalterliche Organisation der Handwerker in Gilden und Zünften gibt auch Zeugnis dieser Praxis. Wissen wurde nicht öffentlich gemacht, sondern rituell an ‘Auserwählte’ weitergegeben.”10
In diesem Rahmen erwähnt Heintel auch, daß in antiken Mythen die Herkunft eines Werkzeugs sehr oft auf einen Gott zurückgeführt wird. Unter diesen von der Tradition dominierten Bedingungen konnten die für Bacon so wichtigen Erfindungen und Entdeckungen fast nur als Produkte des Zufalls entstehen.
zu 2)
Für sein Projekt benötigt Bacon ein System, welches über das konkrete, besondere Herstellen hinausgeht, das Fundament seiner neuen Gesellschaft ist die Technologie, welche einige Gegensätze zur alten Organisationsform aufweist. Ihr Wesen ist nicht mehr das konkret Besondere, sondern das abstrakt Allgemeine, indem sich die Individualität des Könnens und der gemeinschaftliche Logos von Vernunft und Methode miteinander verbinden. Mit der Entwicklung von der einzelnen Machtausübung hin zum verallgemeinerten, systematisierten Eingriff kann sich Technologie nicht im Bereich der individualisierten Geräte verwirklichen, so daß nicht nur der Homo faber, sondern ebenfalls die von nun an untrennbar mit ihm verbundene menschliche Organisation, welche der Realität technisch mächtig geworden ist, in ihr subjektives Zentrum tritt. Es geht in Neu-Atlantis nicht nur um die durch äußere Technik hervorgebrachten Segnungen, Gegenstand der Erzählung ist auch eine Gesellschaft, die das Verhältnis ihrer Mitglieder nach dem Prinzip des Herstellens organisiert hat, denn Technologie bezeichnet immer auch eine bestimmte Organisation des Verhältnisses von Menschen untereinander.
zu 3)
Verstärkt seit Bacon impliziert das Herstellen über eine bestimmte Vorstellung von Natur und Erkenntnis hinaus, auf die weiter unten ausführlicher eingegangen wird, noch das politische Handeln. Das ganze Feld des Sozialen ist in eine riesige Maschinerie eingebettet, was in der folgenden Neuzeit zu der Vorstellung geführt hat, politische Institutionen ließen sich mit wissenschaftlicher Exaktheit herstellen. Im Modus des Herstellens Politik zu betreiben, bedeutet, das Unerwartete, also das Ereignis selbst auszuschalten. Es ist ein Versuch, die zu diversen Konflikten Anlaß gebenden Leidenschaften der Menschen mittels Technologie zu kanalisieren. Die politische Philosophie, die sich hinter diesem Gesellschaftsmodell verbirgt, läuft immer darauf hinaus, Mittel und Wege zu finden, um ein künstliches Lebewesen, genannt Staat, zu erschaffen, weil die Herstellung eines sozialen Körpers anscheinend der aller anderen gleicht.
Das aus der Antike tradierte Politikverständnis mit seiner Kompetenz des Sprechens und Handelns wird in Bacons Entwurf mit der Verdrängung des Unberechenbaren obsolet; an dieser Stelle klärt sich der scheinbare Gegensatz von Utopie und Fortschritt. Die Gesellschaftsordnung von Neu-Atlantis baut auf Begriffen und Konzepten auf, in denen wir heute immer noch denken; im Vergleich zur gegenwärtigen Gesellschaft ist aber die bemerkenswerte institutionelle Stabilität innerhalb des Staates Bensalem auffällig. Die beschriebenen Forschungskomplexe der Insel bringen zwar unablässig Neues hervor, dennoch erstarrt die Gegenwart in der Zeitlosigkeit eines sich wiederholenden Augenblicks der Entdeckung. Man könnte sogar behaupten, daß mit dem Fortschreiten der technischen Entwicklungsbewegung proportional die stetige Erstarrung der sozialen Institutionen ansteigt. Das Verhältnis von staatlicher Utopie und technischer Entwicklung ist von Bacon nicht primär als Teamwork, sondern als Arbeitsteilung konzipiert worden, denn die Möglichkeit einer Rückwirkung des Fortschritts auf die Institutionen bleibt unerwähnt. Absoluter Wandel existiert nicht, denn Bacons Projekt ist der Versuch, eine Kultur auf Dauer zu stellen. Dieses Merkmal der Suche nach Stabilität ist eines der hervorstechendsten aller Utopien, auch über die Renaissance hinaus; es ist geradezu das genrebildende Charakteristikum schlechthin.
Der technische Wandel soll die politische und damit die soziale Stabilität des Gemeinwesens gewährleisten, indem das bevorzugte Tätigkeitsfeld des Menschen von der politisch-sozialen zur wissenschaftlich-technischen Ebene verlagert wird, oder vielmehr die Bereiche Erziehung, Bildung, Wissenschaft und Technik inklusive ihrer sozialen Aspekte – also bei diesen ideal gesetzten Rahmenbedingungen praktisch das gesamte Leben – politisiert werden, um den im engeren Sinne politischen Teil des Gemeinschaftslebens in der menschlichen Gesamtheit widerspruchslos aufzulösen und ihm damit die herausfordernde Schärfe des Einzelnen zu nehmen.
Das Absolutsetzen des Herstellungsprinzips auf allen drei Ebenen führt somit auf mehrere Arten zur Vergegenständlichung der Macht, der Kontrolle und Beherrschung von Realität. Man richtet seine Aufmerksamkeit nicht mehr wie früher auf das Sein, sondern auf das Werden der Dinge, und das entscheidende Merkmal dieser neuen Entwicklung ist das Wahrnehmen des Erkenntnisgewinns als einer Tätigkeit selbst, denn daraus entsteht die „Dynamik des Denkens“.11 Die Vergegenständlichung bekommt Priorität vor dem Gegenstand, der Herstellungsprozeß verliert das Endprodukt aus den Augen, ist ein gegenüber Bacon oft vorgebrachter Kritikansatz.
Bestimmte Vorstellungen von Natur und Erkenntnis
Dieses Programm zur Unterwerfung der Wirklichkeit ist solange nicht möglich gewesen, wie sich das Denken und die Welt noch primär an konkreten Einzelfällen orientiert haben. Kollektive Konzentrationen setzen Verallgemeinerungen und Abstraktionsleistungen voraus, weil erst Abstraktionen den Anspruch auf universelle Gültigkeit erheben, doch der Mensch distanziert sich durch allgemeine Objektivierung zunehmend von sich selbst und der Umwelt. Nach der Theorie McLuhans ist der Gebrauch immer neuer Medien nichts anderes als eine steigende Selbstamputation des Körpers – und nahezu alles, was Menschen in irgendeiner Weise benutzen, ist für ihn Medium.12 Zur Überwindung der entstandenen Distanz wird die Technik, ist sie doch je nach Sichtweise ihre Ursache oder Auswirkung, mehr und mehr unabdingbar.
Die Frage nach der Unendlich- bzw. Endlichkeit des Wissenszuwachses und damit des technischen Fortschritts läßt sich für Bacon zum einen aus der Fabel selbst beantworten. Obwohl sie nur Fragment geblieben ist, ist doch auch so abzusehen, daß die Technik, das Prinzip des Herstellens hier eine zentrale Rolle spielt. Zwar spricht er selbst davon, die „Grenzen des Möglichen zu erreichen“13, doch kann dieses Streben immer nur Annäherung sein, da er die Erreichung der Entwicklungsgrenze, also das Ende des Fortschritts mit keiner Silbe erwähnt. Dem darüber nachdenkenden Leser fällt es nicht schwer, sich vorzustellen, was dann geschehen würde: Nicht erst die Auflösung der Wissensanhäufung, schon die Stagnation bei ihrer Umsetzung würde zu einem Zusammenbruch der Konstanz der Bewegung und damit auch des Staates führen. Die direkte Variante findet sich im Novum Organon.
Durch den Kollaps der alten Ordnung und der darauf folgenden relativen Orientierungslosigkeit wird das Erlangen von Erkenntnis ebenfalls zum Problem, was Descartes etwas später zu der These bringt, dem menschlichen Individuum bleibe letztendlich nur der Zweifel an der Objektivität seiner Umwelt. Auch Bacon bestreitet die Existenz einer absoluten Erkenntnis, was sich im breiten Platz widerspiegelt, den die Idolenlehre im Novum Organon einnimmt.14 Bei den Idolen handelt es sich um die Täuschungen und den Schein, denen die Menschen auf ihrer Suche nach Wahrheit ausgesetzt sind (siehe auch die Einrichtung des Hauses der Täuschungen zur Bewußtmachung selbiger in Bensalem), doch anders als Descartes faßt er sie nicht als Bestandteil der Welt als Ganzes, sondern als Teil nur der menschlichen Natur auf, der man etwas entgegenwirken kann. Einig sind beide sich weitgehend darin, daß die Idole ein Ärgernis darstellen, was vorher z. B. von Montaigne noch anders gesehen wird, nämlich als Grund für die einzigartige Subjektivität des Menschen, die ihn von den restlichen Lebewesen abhebt. Als Beispiel mag der Sündenfall in der Bibel dienen: Die Vertreibung aus dem Paradies ist nur dem Hochmut von Adam und Eva verschuldet. Es läßt sich leichter über Gottes Schöpfung regieren, wenn man der Natur einfach seinen Stempel aufdrückt, doch näher zu Gott gelangt man auf diese Weise nicht – im Gegenteil; anstatt der Tyrannei soll eine demokratische Verschmelzung, statt oben und unten soll eine Symbiose von Mensch und Natur, freilich mit einer Dominanz ersterer, das Verhältnis beider zueinander bestimmen, was die Herrschaft im Endeffekt auch intensiver und – einmal gestartet – unauflösbarer macht. So verwirft Bacon dann auch folgerichtig die rein theoretische Wissenschaftstradition, die naturgemäß stets die Bedürfnisse des Menschen überrepräsentiert, und plädiert für eine Verbindung von Theorie und Praxis, welche durch Systematisierung die Fehlerquellen beim Experimentieren zu minimieren versucht. Nur so wird es möglich sein, den selbstverschuldeten Sündenfall wieder auszugleichen.15
Die Existenzannahme eines in der Vergangenheit liegenden goldenen Zeitalters, welches von einer eisernen Ära abgelöst worden ist, und der Wunsch nach einer Wiederkehr dieses glücklichen Zustandes, haben einen entscheidenden Anteil an der geläufigen Vorstellung eines zyklischen Weltbildes. Für Bacon ist der postmodernistische Auswuchs dieser Sichtweise nicht abzusehen gewesen, der Behauptung, auf dem Feld geistiger Betätigung sei alles schon mal dagewesen. Dem wird in der weiteren Neuzeit immer öfter die Linearität technischer Entwicklungsprozesse entgegengesetzt, mit deren Hilfe man dem immer mehr als Sackgasse empfundenen Kreislauf zu entrinnen versucht.
Außerdem bemerkt Bacon im Novum Organon, daß man sich mit der Akkumulation von Wissen und Technik nicht wirklich der Grenze des Machbaren nähert, sondern sie gleichzeitig durch das Eröffnen neuer Möglichkeiten auch weiter wegschiebt.
Einwirkungen auf und Auswirkungen in
Um das hier Gesagte in einen – zugegebenermaßen sehr beschränkten – philosophischen Zusammenhang zu stellen, gehe ich zum Abschluß noch kurz auf einen Vorgänger und einen Nachfolger Francis Bacons ein:
1) Niccoló Machiavelli
Auf einer anderen Ebene als die direkten Anregungen hat auch Der Fürst sicher bei der Entstehung von Neu-Atlantis eine Rolle gespielt, nicht für das darin entworfene Bild von Wissenschaft und Technik, eher für eine bestimmte Geisteshaltung nicht nur Bacons. Sicher gab es zu allen Zeiten Leute, die nur ihre eigenen Interessen im Blick hatten, doch in seinem berühmtesten Werk erhebt Machiavelli zum ersten Mal diese Handlungsweise durch Systematisierung zum Programm für Adelsherrschaft. Der spätmittelalterliche Souverän soll also durch egoistisches Regieren seine Umwelt zu seinen Gunsten verändern, was sich dann als quasi Nebeneffekt auch auf die Untertanen positiv auswirkt. Nun läßt sich einwenden, die durch das Individuum verursachte Veränderung sei keine neue Erkenntnis, vor allem nicht für Monarchen, da das Herrschen ohne die Möglichkeit zur Veränderung schwerlich noch so genannt werden kann, doch muß man sich die Wirkung dieser Programmschrift in Verbindung mit dem Zusammenbruch der alten Ordnung vorstellen; durch die Auflösung der Traditionen wird erst der volle Umfang der Veränderungsmöglichkeiten bewußt.16
Das vorherige theoretische Durchdenken einer Veränderung führt vor Augen, daß andere Zustände als die herrschenden angenommen werden können – wenn auch erst nur unter dem Deckmantel der Fiktionalität. Die Idee des Fortschritts setzt den Menschen in ein operatives Verhältnis zu seiner Geschichte der Zukunft, er macht Geschichte selbst, stellt sie eigenhändig und –köpfig her. Die Utopien der Renaissance verwandeln dieses Herrschafts- in ein Gesellschaftsmodell, indem sie versuchen, die positiven Effekte dieser Veränderungen direkt nicht nur für den Einzelnen, sondern für die gesamte Menschheit zu nutzen. Dem Teufel brachte das in England um 1600 immerhin den Spitznamen ‘Old Nick’ ein.
2) José Ortega y Gasset
Schon wenn er in der Einleitung über „die technischen, dem Menschen eigentümlichen Akte“17 spricht, läßt sich die Nachfolge Bacons erkennen: „In ihrer Gesamtheit stellen sie die Technik dar, die wir von jetzt ab definieren können als die Reform, die der Mensch der Natur im Hinblick auf die Befriedigung seiner Notwendigkeiten auferlegt.“ Doch über dreihundert Jahre sind nicht spurlos vorübergegangen, was die als Paradoxon formulierte zentrale These in Ortega y Gassets Werk zeigt: „Der Luxus, das Überflüssige, ist notwendig.“18 In Rekurrenz auf Bacons Vorstellung, mit dem technischen Fortschritt werde automatisch die Lebensqualität mitgesteigert, geht er davon aus, daß der Mensch nicht einfach nur leben will, er will gut leben, und deshalb ist Technik eben die notwendige Produktion von eigentlich Überflüssigem. Zum Luxus paßt auch, daß der Herstellungsprozeß einen höheren Stellenwert als der fabrizierte Gegenstand besitzt, da er ja nicht wirklich unentbehrlich ist, sondern vielmehr durch seine Existenz das Herstellen in gewissem Grad lediglich dokumen- und repräsentiert; selbst Diamanten sind nur geschliffen wirklich schön.19
Schluß
Die an der mentalitätshistorischen Entwicklung des Fortschritts- und Veränderungsbegriffs orientierte ‘Dynamik des Denkens’ und das damit verbundene ‘Prinzip des Herstellens’ sind markante Charakteristika der Neuzeit; Francis Bacon ist einer ihrer Wegbereiter gewesen. Von ihm gesetzte Kategorien wirken bis heute auf verschiedenen Gebieten stilbildend, auch wenn durch das Absolutsetzen des Zweifels bei Descartes die voraufklärerische Absicht der Gebrauchsvorstellungen von Technik aus der Perspektive der Renaissanceutopisten für die Folgezeit ihrer humanistischen Elemente verlustig gegangen ist. Es ist wieder vermehrt der Blickwinkel Machiavellis eingenommen worden, nur nicht mehr auf einzelne Herrscher, sondern auf jedes denkende und damit handelnde beziehungsweise herstellende Individuum bezogen, welches sich seinen Maßstab selbst setzt.
Fußnotes
zurück1 Daß Bacon nicht nur als Wissenschaftler, sondern auch als Literat geschätzt wird, läßt sich an der zeitweise von einigen Literaturhistorikern vertretenen Meinung erkennen, Shakespeares Werke seiner Autorschaft zuzuschreiben. Vgl. z. B. Prof. P. Rapp, William Shakespeare oder Francis Bacon
zurück2 Die Benutzung des gleichen Namens für die Insel wie sein Vorbild ist nicht zufällig, hat er doch grundsätzlich mit dem Platonismus sympathisiert. Bacon verlegte die Insel lediglich auf Grund der durch die Entdeckung Amerikas gewonnenen Erkenntniserweiterung einen Ozean weiter, von jenseits der Säulen des Herkules in den Pazifik. Den damaligen Lesern mag das einleuchtend erschienen sein, heute befremdet das Unterfangen, eine Insel namens Atlantis im Pazifik anzusiedeln.
zurück3 Dieser Umstand ist wohl vor allem auf das Wissen um den Ausgang bei seinem Vorbild und also auch auf Bacons Karriere im Staatsdienst zurückzuführen. 1584 Wahl ins Parlament wegen guter Beziehungen zum Königshaus, insbesondere dem Grafen von Essex, 1607 Reichsanwalt, 1613 Justizminister, 1616 Geheimratsmitglied, 1617 Großsiegelbewahrer, 1618 Lordkanzler und Baron von Verulam, 1621 Vicomte von St. Albans. Daß bei beiden eine Insel das Staatsgebiet der utopischen Gesellschaft trägt, lässt sich wohl auch auf die Tatsache zurückführen, dass sowohl Morus als auch Bacon Engländer und damit selbst Bewohner einer Inselnation gewesen sind.
zurück4 Vgl. v. Oppenheimer, Francis Bacon
zurück5 Vgl. Platon, Timaios (24e-25d) und Kritias (112e-121c)
zurück6 Zitiert nach v. Oppenheimer, S. 29 (siehe Lit.verz.)
zurück7 Vgl. B. Vickers, Francis Bacon and Renaissance Prose
zurück8 Vgl. C. Gerschlager, Konturen der Entgrenzung, S.53
zurück9 Siehe C. Gerschlager, S. 60ff
zurück10 P. Heintel, Alternative Modellbildungen zur Ökonomie, S. 45
zurück11 Hier in der Nähe ist im weiteren Gedankenkreis auf dem Gebiet der Kunst auch die Entstehung der ästhetischen Kategorie der Innovation und ihre seitdem stetig zunehmende Dominanz gegenüber dem alten Mimesis-Begriff zu verorten.
zurück12 Vgl. M. McLuhan, Die mechanische Braut. Er hat für meinen Geschmack auch die gleichzeitig nebenher existierende Angst vor einer Verselbständigung gut mit dem Vergleich beschrieben, der Mensch droht das für die Maschinenwelt zu werden, was die Bienen für die Pflanzenwelt sind.
zurück13 F. Bacon, Neu-Atlantis (S. 43)
zurück14 Vgl. Aphorismen 38-74
zurück15 Vgl. W. Krohn, Francis Bacon
zurück16 In diesem Bereich muß auch das Auftreten der Vorstellung von Gott als Ingenieur verortet werden, der das von ihm erbaute Uhrwerk nur aufgezogen hat und jetzt ablaufen läßt, ohne selbst noch einzugreifen.
zurück17 Dieses Zitat und das nächste: J. Ortega y Gasset, Betrachtungen über die Technik, S. 23
zurück18 P. Fischer, Zur Genealogie der Technikphilosophie, S. 313
zurück19 Zeitgleich zum Schaffen Ortega y Gassets verläuft auch die zweite Blütezeit der literarischen Gattung der Utopie, die in der langen Zwischenzeit nur vereinzelt entstanden sind. Bezeichnenderweise sind die großen Werke dieser Epoche nahezu ausnahmslos Negativvisionen (z. B. Huxleys Schöne neue Welt, 1984 von Orwell), die sich doch sehr von den Zukunftsträumereien der Renaissance unterschieden.
Literaturangaben
Bacon, Francis, Neu-Atlantis, Stuttgart 1982 (Reclam)
Ders., Das neue Organon, hg. von M. Buhr, Altenburg 1962
Bock, Hellmut, Staat und Gesellschaft bei Francis Bacon, Berlin 1937
Fischer, Kuno, Francis Bacon und seine Nachfolger. Entwicklungsgeschichte der Erfahrungsphilosophie, Leipzig 1875, 2. Aufl.
Fischer, Peter, Zur Genealogie der Technikphilosophie, in: ders. (Hg.), Technikphilosophie, Leipzig 1996
Gerschlager, Caroline, Konturen der Entgrenzung. Die Ökonomie des Neuen im Denken von Thomas Hobbes, Francis Bacon und Joseph Alois Schumpeter, Marburg 1996
Grassi, Ernesto (Hg.), Der utopische Staat. Morus Campanella Bacon, Reinbek 1960
Heintel, Peter, Alternative Modellbildungen zur Ökonomie, in: Pellert, A. und Berger, W. (Hg.), Der verlorene Glanz der Ökonomie, Wien 1993
Klein, Jürgen, Francis Bacon oder die Modernisierung Englands, Hildesheim 1987
Krohn, Wolfgang, Francis Bacon, München 1987
Machiavelli, Niccoló, Der Fürst, Stuttgart 1986 (Reclam)
McLuhan, Marshall, Die mechanische Braut, in: M. Baltes, F. Böhler, u. a. (Hg.), Medien verstehen. Der McLuhan-Reader, Mannheim 1997
Oppenheimer, Felix von, Montaigne Edmund Burke Francis Bacon. Drei Essays, Wien 1928
Ortega y Gasset, José, Betrachtungen über die Technik, Stuttgart 1949
Rapp, Peter, William Shakespeare oder Francis Bacon, Ulm 1887
Richter, Wilhelm, Bacon als Staatsdenker, Berlin 1928
Röd, Wolfgang (Hg.), Geschichte der Philosophie, Bd. 7, Die Philosophie der Neuzeit 1. Von Francis Bacon bis Spinoza, München 1978
Schneider, Manfred, Kommunikationsideale und ihr Recycling, in: S. Weigel (Hg.), Flaschenpost und Postkarte. Korrespondenzen zwischen Kritischer Theorie und Poststrukturalismus, Köln, Weimar, Wien 1995
Vickers, Brian, Francis Bacon and Renaissance Prose, Cambridge 1968
Ders., Francis Bacon. Two Studies, Harlow/Essex 1978