sell out loud

Seit Juli 2019 gammeln diese beiden Zitate hier als Entwurf im Backend rum. Ich wollte da immer mal wieder eine längere Erwiderung zu schreiben. Nun gestehe ich mir ein, daß ich es wohl nicht mehr tun werde. Da die Aussagen von Eva Reitenbach auch anderthalb Jahre später noch aktuell sind, wollte ich sie auch nicht unter den Tisch fallen lassen.

“Es geht nicht mehr um das, was als Authentizität oder Slice of Life bezeichnet wird und Nulllinie in jedem Instagram-Kanal ist. Sondern um wirklich echte Offenheit und Verletzbarkeit, die echtes Vertrauen erzeugt. Die jungen Generationen haben längst begriffen, dass Fehler und schwache Momente öffentlich sichtbar und schonungslos kommentiert werden. Ungefilterte Ehrlichkeit und Selbstironie rücken viel weiter nach oben in der Wichtigkeitsskala und makellose Perfektion steigt schneller ab als der VfB.”

Die beiden Abschnitte oben und unten stammen aus einem Artikel in der W&V mit dem Titel: Die neue Hässlichkeit: Warum die Werbung umdenken muss. Der hat in der Analyse des verändernten Kommunikationsverhaltens durchaus recht. Nur ziehe ich andere Schlüsse daraus als Eva.

“Während wir uns noch in vignetten-garnierter Authentizität wälzen, sind junge Konsumenten also schon einen Schritt weiter und betrachten ihre Welt ungefiltert und ungeschönt. Der ungebremste Erfolg von Stories, Live-Streaming und privater Überkommunikation sind die stärksten Treiber dieser Entwicklung. Neben der Nachricht der besten Freundin wirkt Werbung dann noch werblicher, noch unechter. Sie ist aus der Zeit gefallen.”

Social Media ist das eine. Muß man ja nicht mitmachen, wie erst neulich zum Beispiel LUSH vorgemacht hat. Die Formulierung “ein Schritt weiter” impliziert, es gäbe eine lineare Progression von einem zum anderen Medium – dem ist mitnichten so. Mit Megabudgets ausgestattete Hollywood-Blockbuster werden nicht durch eine quick & dirty aufgenommene TikToks abgelöst, sie existieren nebeneinander.

Was ist vom in jedem Briefing auftauchenden Wörtchen “authentisch” halte, habe ich an anderer Stelle dargelegt. Werbung sollte das Artifizielle umarmen, das muß nicht heißen die Bodenhaftung zu verlieren oder nicht mehr die Sprache der Leute da draußen zu sprechen.

Werbung hat schon immer genervt, das hat wenig mit den im Artikel angesprochenen Polen zu tun. Sie nervt aber im Social-Media-Umfeld noch mehr als in TV oder Kino – eben weil die Gesprächssituation dort eine private, wenn auch potenziell virale, ist. Hier werden Werbeformate strukturell als störender empfunden, wie sehr sich die werblichen Inhalte auch anbiedern mögen.

Zielgruppen plattformadäquat vollzuschleimen, mag Conversion und View Through Rates um ein paar Prozentpunkte steigern. Aber das ist nicht der Weg, wenn man Großes erreichen will. Werbung muß sich hinstellen und selbstbewußt sagen “Seht her, was ich zu verkaufen habe!”

Das wäre nämlich wirklich ehrlich. Denn machen wir uns nichts vor: Evas Forderungen würden nur zünden, wenn sich viel mehr als nur der Kommunikationsstil der werbetreibenden Unternehmen ändern würde. Wenn sie, statt nur Greenwashing zu betreiben, echt nachhaltig produzieren, wenn sie nicht nur von Wokeness reden, sondern Diversity und Inklusion tatsächlich leben würden. Auf welchem Kanal auch immer.