Harold Adams Innis

/ Zeitdruck // Druckkunst /// Kunststaat ////

1) Zeit

Der Wirtschaftshistoriker und „Archäologe der Medienwis­senschaft“ (Karlheinz Bark) Harold Adams Innis (1894-1952) legt in dem Text ‚Ein Plädoyer für die Zeit’1 den Schwerpunkt seiner Ge­schichtsbetrachtung auf die Doppelung von Zeit. Für ihn ist Zeit nämlich keine gegebene, ewige Konstante, sondern zum einen handelt es sich bei ihr um ein Bündel von Konzepten (etwa: astro­nomische Zeit, gesellschaftliche Zeit, usw.), zum anderen unterliegt die derartige Wahrnehmung von Zeit, also auch ihre Vorstellung und damit letztlich der Zeitbegriff selbst, einer fortschreitenden Veränderung. Demnach muß der Historiker nicht nur zwei Zeiten, sondern zwei Zeitbegriffe voneinander trennen, um sie dann zu­einander in Beziehung zu setzen: Erstens die Zeit, über die er schreibt und zweitens die Zeit, in der er schreibt. Diese Überle­gung führt Innis zu der Warnung, nicht in „Altertümelei“ oder „übertriebene Gegenwartsbezogenheit“2 zu verfallen.

Nach Innis beginnt mit den humanistischen Studien der Renais­sance die Vorherrschaft des linearen Zeitkonzepts3; als Kulminations­punkt dieser Entwicklung nennt er die Kalenderre­form durch Papst Gregor XIII. im Jahre 1582. Vorher ist das zykli­sche Weltbild bestimmend; ist die lineare Zählweise der Jahres­einheiten lediglich eine Art Notlösung gewesen, da der exakte Zeitpunkt des Jüngsten Gerichts den Menschen unbekannt gewesen ist, so wird sie dann allmählich zum Prinzip erhoben. Geschichtliche Betrachtungen be­ginnen sich von der Philosophie, welche damals noch beinahe vollkommen im Dienste der Religion gestanden hat, zu lösen4, bis durch Herder sogar der Supremat der Geschichte über die Philo­sophie verkündet wird, und die Mathematik gewinnt an Bedeutung wie seit der klassischen Antike nicht mehr. So kann man die Kalen­derreform auch als aktive Kapitulation verstehen, als letzten großen Versuch der Kirche, das Kontrollmonopol über die Zeit beim sich langsam abzeichnen­den Auseinanderdriften der Kongruenz von Christentum und Abendland in ihren Händen zu konservieren. Vielleicht kann man in der Wendung zur Geschichtlichkeit hin eine Kompensation zur Vorstellung einer linearen Chronologie sehen, durch Erinnerung und Tradition soll Stabilisierung erreicht werden. Geschichte ist eine Form der Zeitwahrnehmung.

Als Medientheoretiker verbreitet Innis nicht Aussagen über die Zeit an sich, seine Perspektive ist der technische Aspekt von Zeit, ihre Meßbarkeit; ihn interessieren die Medien, welche die Zeit anzeigen. Je weiter man zurückgeht, desto mehr wird das Messen von Zeit zu einem Privileg und bedeutet somit auch das Kontrollieren von Zeit und damit Macht, wie man am Beispiel der Priesterkaste im alten Ägypten sieht. Die Herrschaft über die Zeit bedeutet in erster Linie Kontinuität. Mit der Demokratisierung der Uhrzeit, könnte man im Sinne Marx’ sagen, wird die Leibeigenschaft zur Zeiteigenschaft. Das bringt uns auch zur Hauptthese der Innis’schen Theorie, nämlich daß „die Stabilität einer Gesellschaft vom Gespür für das richtige Gleichgewicht zwischen Raum- und Zeitbegriffen abhängt (…) Eine Zivilisation müssen wir sowohl bezüglich ihres Territoriums als auch ihrer Dauer beurteilen.“5 Herrschaftssysteme streben also für ihren Erhalt in Raum und Zeit nach einer Balance der Begriffe dieser beiden Dimensionen.

2) Druck

Im siebten Kapitel von ‚Empire and Communication’ (1950) widmet sich Innis der Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern durch Gutenberg und den daraus resultierenden Folgen. Die Wechselwirkung von Buchdruck und Alphabetisierung ist of­fensichtlich: Je mehr Bücher vorhanden und verfügbar sind, desto einfacher können und wollen die Menschen lesen und damit auch schreiben lernen, und je mehr die Leute diese Kommunikations­techniken beherrschen, desto mehr finden die gedruckten Bücher Verbreitung.6

Darüber hinaus sind die Veränderungen noch weitreichende­rer Art. Zuerst setzt eine allmähliche Umorientierung des Wissen­schaftsbegriffs ein: Es ist beileibe kein Zufall, daß die Erfindung des Buchdrucks das Ende der aristotelisch beein­flußten Scholastik zugunsten einer eher empirischen Systematik, wie sie etwa Francis Bacon in seinen Schriften ‚Novum Organon’ oder ‚The Advancement of Knowledge’ propagiert hat, einläutet. Mit Descartes löst die Erkenntnistheorie die Metaphysik als „prima philosophia“ ab.7 Von dieser Neuordnung der Grundlagen aus greift die Entwicklung in nahezu alle Bereiche des menschlichen Lebens über, wobei Geschwindigkeit und Stärke ihrer Durchset­zungskraft nicht nur von ihr selbst abhängt, sondern auch vom ent­gegengebrachten Widerstand der alten Institutionen, welche ihre Macht durch sie gefährdet sehen. Man kann beispielsweise ver­einfacht sagen, daß sich die Entwicklung vom Handwerk zur Indu­strie gegen den Willen der Gilden und Zünfte durchgesetzt hat.8

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Um die Intensität der Veränderung an der Basis in ihrem ganzen Ausmaß zu erkennen, ist es hilfreich, sich die Situation davor noch einmal zu vergegenwärtigen: Auf institutioneller Ebene besaß die katholische Kirche nahezu ein Bildungsmonopol, wissenschaftliches Arbeiten fand ausschließlich in einigen Klöstern statt und beschränkte sich auf die Scholastik, war also weit vom heutigen Begriff entfernt, in dem die Naturwissenschaften eine immer beherrschendere Rolle einnehmen. Bibliotheken waren ein wahrer Schatz, da Bücher handschriftlich in Kanzleien hergestellt werden mußten. Unter diesen Voraussetzungen war natürlich auch das Konsumieren von Texten ein anderes als heutzutage. Das Lesen wurde als eine monastische Tätigkeit erlebt, bei der Begabung, Übung und Zucht vonnöten waren. Hatte man die verschiedenen Phasen des studium legendi durchlaufen (memoria, historia, analogia, anagogia), dann erreichte man den Übergang von der cogitatio zur meditatio, so daß durch die Intensität des Lesevorgangs ein gleichzeitiges Verstehen zustande kommen sollte. Auf diese Weise wurde sich der Text sozusagen buchstäblich einverleibt, denn das Lesen war damals eine aktivere Körpertätigkeit als waagerechte Pupillenbewegung und gelegentliches Umblättern; man las laut mit dem Finger an der Zeile.9 Die Schrift war also kein so abgekühltes Medium, wie es Marshall McLuhan10 für die heutige Zeit behaupten kann.

Der Buchdruck revolutioniert diese Welt, die mechanische Vervielfältigung der Schrift ist der Ausgangspunkt für das Abkühlen dieses Mediums. Er nimmt nicht nur eine Vorreiterrolle an und hat Vorbildcharakter für alle folgenden Markteinführungen nicht nur technischer Erfindungen, die Öffentlichmachung des Wissens durch allmähliche Archivierung und der dadurch entstehende objektivere Zugriff auf selbiges ermöglicht die späteren Entwicklungen zu einem Großteil erst.

Ein Beispiel aus der Religion: Die Bibelübersetzung Martin Luthers ist der erste wirkliche Bestseller im noch jungen Druckzeitalter auf deutschsprachigem Gebiet. Sein Einfluß auf die Normierung der deutschen Sprache, ja überhaupt das Entstehen dieser Nationalsprache aus unzähligen einzelnen Dialekten, ist oft hervorgehoben worden und braucht hier deshalb nicht noch einmal besonders ausgebreitet werden. Mit der Schrift ‚Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche’ (1520)11 gibt Luther quasi eine Gebrauchsanweisung für das Lesen seiner gedruckten Bibelübersetzung.

Sein Ausgangspunkt ist das Anprangern von Auswüchsen der Institution Kirche wie etwa dem Ablaßwesen. Er will zurück zum Primat des Wortes Gottes, und die Veränderung der Mediensituation kommt ihm dabei zur Hilfe, denn es ist etwas anderes, ob ein auserwähltes Volk die Bundeslade mit seinem einzigartigen Inhalt plus ein paar Thorarollen für die Gelehrten mit sich herumträgt, oder die potentielle Möglichkeit besteht, jeden Haushalt in prinzipiell jedem christlichen Land mit einer gedruckten Bibelübersetzung zu versorgen. Auf diese Weise wird die Rückkehr zu den Wurzeln der Religion zu einer politischen Bildungsforderung, wenn die Mehrzahl der eingeführten Sakramente wieder verworfen wird und das kollektive Ritual seine Führungsrolle zugunsten der individuellen Lektüre aufgeben soll.12 Allerdings entwickelt sich hieraus nicht eine Individualreligion für jeden einzelnen, vielmehr wird die gemeinsame Basis durch die Vereinheitlichung der Drucktechnik noch gesteigert. Für Luther sind dabei die Begriffe Zeugnis und Gesetz von entscheidender Bedeutung.

3) Kunst

Walter Benjamins berühmter Aufsatz ‚Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit’13 aus den 1930er Jahren gehört zu den frühen Versuchen, einer durch technische Medien veränderten kulturellen Wirklichkeit Rechnung zu tragen. Benjamin sucht dabei den systematischen Vergleich zwischen einer Epoche der manuellen Herstellung und Reproduktion von Kunstwerken einerseits und der Gegenwart der technisch-massenhaften Produktion andererseits. Damit beschreibt er nicht nur den Zusammenhang von Mediengefügen und gesellschaftlichen Voraussetzungen, sondern er reflektiert auch unterschiedliche Dispositive, vor allem die der Malerei und des Films. Nicht nur Kunstwerke verändern sich, sobald sie technisch reproduzierbar geworden sind, sondern der Begriff des Werks selbst wird ein anderer. Benjamin unterzieht erstmals auch die Idee des Apparathaften einer genaueren Untersuchung und liefert so Einblicke in die Warnehmungs- und Rezeptionsbedingungen technischer Medien. Dem ‚Kunstwerk’-Aufsatz gelingt so der Entwurf einer Reihe von Konzepten, welche auch heute noch die Diskussion innerhalb der Medienkultur bestimmen: die Frage nach der Authentizität, das Verhältnis von Original und Kopie sowie von Tradition und Moderne und nicht zuletzt die Frage nach der historischen Wandelbarkeit von Daseinsweise und Sinneswahrnehmung. Von dieser Perspektive aus kann man die beiden letzten Begriffe ohne weiteres in die von Kultur und Medien übersetzen.

So richtig Benjamins Überlegungen zu diesem Thema sind, setzen sie doch eine Entwicklungsstufe zu spät ein: Die Erfindung des Buchdrucks ist ihm wohl schon durch jahrhundertelange Benutzung derart vertraut, daß sie keine Erwähnung findet. Dabei lassen sich durchaus Parallelen ziehen, etwa zum Verhältnis von Malerei und Photographie. Im Gegensatz zum betrachteten Gemälde ist das Anschauungsobjekt Photo kein Kunstwerk im herkömmlichen Sinne, da es kein Original mehr darstellt; von ihm lassen sich beliebig viele Abzüge nebeneinanderlegen, ohne daß ein Unterschied feststellbar ist. Die Bezeichnung Kunstwerk geht also vom Positiv auf das ihm zugrundeliegende Negativ über, auf dem das Künstlerische allerdings schwerer auszumachen ist. Das Endprodukt des betrachtbaren Photopositivs verliert im Vergleich zum Gemälde etwas von seiner Aura.

Vergleicht man nun einen wertvollen handschriftlichen Codex aus dem zehnten Jahrhundert mit einem heutigen, maschinell gefertigten Taschenbuch, ist die Analogie offensichtlich. Auf der einen Seite ein reich verzierter Umschlag und oftmals Illustrationen, der Text selbst bei guter Ausführung eine kalligraphische Meisterleistung, auf der anderen Seite schlichtweg ein Gebrauchsgegenstand mit höchstens individuell-ideellem Wert, zumindest definiert ihn das geltende Recht so. Das Negativ des massenproduzierten Textes wäre also der Analogie nach das Manuskript des Autors14, doch trifft es den Kunstbegriff nicht wirklich, da man niemandem die Autorschaft eines Textes abspräche, nur weil er, anstatt die Worte selbst niederzuschreiben, sie seiner Sekretärin diktiert oder ein Spracherkennungsprogramm benutzt hätte.

Mit der Erfindung des Buchdrucks setzt eine Entwicklung in der Literatur ein, die Idee von ihrer Ausführung zu trennen, wobei ersteres immer mehr an Bedeutung gewinnt. Daß die Urheber mittelalterlicher Schriften heute unbekannt sind, liegt nicht nur an der inzwischen vergangenen Zeit, sie sind es auch damals oft gewesen, wohingegen der Ausführende (z. B. Minnesänger) mehr Beachtung genossen hat. Daran ändert die Tatsache auch nichts, daß in vielen Fällen Vortragender und Autor ein und dieselbe Person sind. Dieser Trend greift zum Teil durch neue Erfindungen von der Literatur auf andere Gebiete der Kunst über; Kasimir Malewitschs ,Schwarzes Quadrat’ hätte auch ein anderer malen können, wichtig ist die Idee dazu. Und der Trend setzt sich nicht nur fort, er steigert sich auch; Benjamin hat richtig erkannt, das die Maschine bei der Ausführung von Kunst eine zunehmend wichtigere Rolle spielt. Physikalische und chemische Vorgänge innerhalb des Photoapparates übernehmen die eigentliche „Arbeit“ des Künstlers, er muß diese Vorgänge noch nicht einmal verstehen, es reicht, wenn er auf den Auslöser drückt. Das ist nun aber nicht erst seit der industriellen Revolution so, auch die Druckerpresse ist eine Maschine.

4) Staat

Wir leben im vielzitierten „Medienzeitalter“, benutzen den Begriff, als ob vor den neuen, den elektronischen nie andere Medien existiert hätten, dabei hat vielmehr jedes Zeitalter sein eigenes Medium. Medien ermöglichen Kommunikation erst, sie sind deshalb in jedwedem Gesellschaftssystem unentbehrlich, egal wie Herrschaft darin organisiert ist.
In der griechischen Antike, ob nun Demokratie, Oligarchie oder Monarchie, ist die Polis das vorherrschende Staatsmodell, was seine Ursache hauptsächlich darin hat, daß zum Regieren eines großen Territorialstaates die geeigneten Medien nicht vorhanden gewesen sind.15 Das Reich Alexanders des Großen bildet die regelbestätigende Ausnahme, nach Innis ist seine nur kurze Existenz mit der Überbetonung der räumlichen Dimension zu Lasten der Zeit zu erklären. Das Medium dieser Epoche ist das originärste überhaupt, sozusagen das Urmedium, nämlich die menschliche Sprache.

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Im Mittelalter sowie dem Absolutismus der frühen Neuzeit prägt die personale Herrschaft das Prinzip der Staatsregierung; der König besitzt eine so große Machtfülle, daß der Staat in dieser Form ohne ihn undenkbar wäre, weshalb er nicht nur den Staat verkörpert, sondern Ludwig XIV. mit vollem Recht behaupten kann: „Der Staat bin ich.“ Sein Wille ist Gesetz, den er seinen Untertanen per handschriftlicher Papyrusurkunde mitteilt, ein geeignetes Medium zur widerstandslosen Kommunikation in nur eine Richtung, also der des Befehlsempfängers. Ein Staat wäre natürlich auch ohne einen solchen Fürsten möglich, was frühere und spätere Beispiele zur Genüge zeigen, doch wäre es eben ein anderer Staat. Seine Existenz legitimiert sich durch die bloße Präsenz, was die Wichtigkeit der Zeremonialwissenschaft zu dieser Zeit erklärt. So kann man den Absolutismus als das letzte Aufbäumen der mittelalterlichen Weltordnung sehen, in einer sich radikal verändernden Umwelt versucht die Institution der Herrschaft sich dem kontinuierlich zu entziehen; indem sie den Wandel nicht zu stoppen, geschweige denn rückgängig zu machen im Stande ist, blendet sie die Umwelt einfach aus. Staatsform und Staatsinhalt sind in diesem Fall deckungsgleich, was die Kunstprodukthaftigkeit totalitärer Staaten dieser Prägung verdeutlicht.16

Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) hat die Überlebtheit dieses Systems bereits früh erkannt. In seinem Text ‚Entwurf gewisser Staatstafeln’ geht die Legitimation von staatlicher Macht vom Zeremoniell auf die Verwaltung über. Allerdings setzt die tatsächliche Umsetzung nicht von alleine ein, da bedarf es erst dem äußeren Umstand der notwendig gewordenen Neuordnung Europas nach der Niederlage Napoleons über hundert Jahre später. Trotz des Schlagwortes der Restauration, also der Wiederherstellung der Verhältnisse vor der Französischen Revolution, war es unvermeidbar, die alte Ordnung den neuen Gegebenheiten anzupassen.

Auch wenn Leibniz an der Staatsform keineswegs zweifelt, so versucht er dem Staat doch eine andere Basis zu geben, als dies die reine Personalherrschaft getan hat. Durch das Sammeln empirischer Daten (z. B. Volkszählung, Landkarten, etc.) und deren Archivierung, die wichtigsten davon in eben den Staatstafeln zusammengestellt, wird das anfangs als Regierungshilfe Gedachte zum eigentlichen Inhalt des Staates, nämlich Volk und Territorium.17 Der inflationäre Gebrauch des Ausdrucks „Medienzeitalter“ läßt sich zu einem guten Teil aus der Tatsache herleiten, daß wir heute nahezu alles als Medium begreifen, etwa auch Transportmittel. Der Grund dafür liegt darin, daß in der heutigen Zeit nicht ein Medium die Kommunikation beherrscht, sondern eine ganze Reihe mehr oder weniger gleichberechtigt nebeneinander steht und somit Vergleiche zwischen ihnen erst möglich werden.

5) Schluß

Durch die neugewonnene Möglichkeit der Archivierung von momentan nicht benötigtem Wissen wurde der lineare Zeitbegriff gefestigt, denn nun war eine stärkere Trennung von Vergangenheit und Gegenwart erreicht. Diese Entlastung des Gedächtnisses ließ eine größere Konzentration auf den Fortschritt, also die sich im Jetzt manifestierende Zukunft, zu, was schließlich dazu führte, daß sich allgegenwärtig gelebte Tradition in eine Wissenschaft von der Geschichte wandelte, auf die im Archiv zugegriffen werden konnte. Der Blick nach vorn mit immerhin abnehmbaren Scheuklappen ist einzig durch die unvorstellbare Vernichtung des Archivwesens rückgängig zu machen.

Die letztlich vom Buchdruck ausgelöste oder doch zumindest entscheidend geförderte Entwicklung von der Mimesis zur Innovation in der Kunst verändert also nicht nur den Begriff vom Kunstwerk, sondern auch die Vorstellung vom Künstler als Handwerker im oben beschriebenen Sinne hin zum bloßen Ideengeber, was auch selbstverständlich auch Nachteile mit sich bringt. Während über den langen Zeitraum hinweg gut gelagerte Gemälde etwa alter flämischer Meister bis heute keiner Restauration bedürfen, verfaulen modernere Gebilde wie die action paintings eines Jackson Pollocks bereits jetzt an den Wänden der Museen. Die Verbindung von Kunst und Handwerk zur Bezeichnung Kunsthandwerk trifft heute nur noch auf die Goldschmiede und wenig andere aussterbende Berufe zu.

Die Entwicklung hin zum Territorialstaatsmodell der Neuzeit steht in enger Verbindung mit der identitätsstiftenden Wirkung des Nationsbegriffes in seinen beiden Bereichen Land und Leute, dazu gehört der schwer eingrenzbare Begriff Kultur mit all seinen Teilaspekten, zu dem aber sicherlich Sprache, Technik und Kunst zu zählen sind.

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Fußnotes
1) ‚A Plea for Time’, 1950. Deutsch in: K. Bark (Hrsg.), Harold A. Innis – Kreuzwege der Kommunikation. Ausgewählte Texte ↩︎
2) Dasselbe, S. 120 ↩︎
3) Zumindest für das – noch – christliche Abendland, siehe die spätere, von Innis selbst als Beispiel angeführte, chronologische Einteilung in v. und n. Chr. ↩︎
4) Eines der frühesten und in seiner Konsequenz das sowohl berühmt, wie berüchtigte Beispiel ist ‚Il Principe’ von Niccolò Machiavelli, 1512/13 geschrieben und erst fünf Jahre nach dessen Tod, also 1532, in gedruckter Form veröffentlicht. ↩︎
5) K. Bark, Kreuzwege der Kommunikation, S.122 ↩︎
6) Aufgrund des weiten Bearbeitungsfeldes dieser Arbeit sei hier nur kurz auf eine Überlegung zum Distributionsproblem hingewiesen, also die Bücher weitflächig zu den Lesern zu bringen. Hier zeigt sich das Zusammenspiel verschiedener Komponenten, denn wären die Transportmedien nicht vorhanden gewesen, hätte die Erfindung des Buchdrucks kaum einen solchen Einfluß ausüben können. Sie ist wohl der Hauptgrund, aber sicher nicht der einzige gewesen. Ein anderer Faktor ist beispielsweise das Vorhandensein Papier anstatt dem zuvor benutzten Pergament. ↩︎
7) R. Descartes, Meditationes de prima philosophia ↩︎
8) P. Heintel, Alternative Modellbildungen zur Ökonomie, S. 45: „Einfache Hand-Werkszeuge konnten lange Zeit als Verlängerung und Bündelung von Organen, von Sinnlichkeit verstanden werden, ihr Gebrauch setzte Fähigkeiten und Übungen des Körpers voraus; es kam auf den einzelnen an und auf ein gutes einzelnes Gerät. Das Werkzeug und sein Verwender sind noch etwas Besonderes … Typisch ist auch der Kult um das geheime Wissen, welches von denen, die ein Handwerk betrieben, gepflegt wurde. Die mittelalterliche Organisation der Handwerker in Gilden und Zünften gibt auch Zeugnis dieser Praxis. Wissen wurde nicht öffentlich gemacht, sondern rituell an ’Auserwählte’ weitergegeben.“ ↩︎
9) Gut beschrieben z. B. in: I. Illich, Im Weinberg des Textes ↩︎
10) Heiße Medien und kalte , in: Der McLuhan-Reader, S. 117-120 ↩︎
11) In: M. Luther, Studienausgabe, Frankfurt a. M. 1970, S.69-80 ↩︎
12) Die Massenalphabetisierung geht freilich zu Lasten der europäischen Verständigung durch die universale Gelehrtensprache des Lateins, welche über die Zeit an Bedeutung verliert. ↩︎
13) Z. B. leicht gekürzt in: L. Engell, u. a. (Hrsg.), Kursbuch Medienkultur, S. 18-33 ↩︎
14) Wörtlich übersetzt: Handschrift, auch wenn das in unserer Zeit nur noch selten zutrifft, aber das stört niemanden. Noch Truman Capote hat behaupten können, es gäbe zwei Sorten von Schreibern, nämlich Schriftsteller und Schreibmaschinenbenutzer. ↩︎
15) Platon beispielsweise beziffert in der ‚Politeia’ die Idealeinwohnerzahl seines utopischen Staates auf 5040 Bürger nebst deren Familien. ↩︎
16) Letztendlich scheitert die mittelalterliche Personalherrschaft an der Überbetonung des Zeitbegriffes. Ihre Gemeinsamkeiten mit dem Absolutismus der frühen Neuzeit erklärt Innis mit dem Hegelzitat: „‚Die Eule der Minerva beginnt erst mit der Dämmerung ihren Flug…’“ (K. Bark, Kreuzwege der Kommunikation, S. 69) ↩︎
17) Ein frühes literarisches Beispiel dieser Theorie ist der mehrbändige Roman ‚Wunderliche Fata einiger Seefahrer…’ von Johann Gottfried Schnabel (1. Band 1731), der nicht zufällig 1828 unter dem Titel ‚Insel Felsenburg’ eine Neuauflage erfuhr, inklusive einer Vorrede von Ludwig Tieck. ↩︎

Literaturverzeichnis

Baltes, Martin, u. a. (Hrsg.), Medien verstehen. Der McLuhan-Reader, Mannheim 1997
Barck, Karlheinz (Hrsg.), Harold A. Innis – Kreuzwege der Kommunikation. Ausgewählte Texte, Wien; New York 1997
Descartes, René, Meditationes de prima philosophia. Lateinisch-Deutsch, Hamburg 1956
Engell, Lorenz, u. a. (Hrsg.), Kursbuch Medienkultur. Die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard, Stuttgart 1999
Heintel, Peter, Alternative Modellbildungen zur Ökonomie, in: Berger, W. und Pellert, A. (Hrsg.), Der verlorene Glanz der Ökonomie, Wien 1993
Illich, Ivan, Im Weinberg des Textes. Als das Schriftbild der Moderne entstand, Frankfurt a. M. 1991
Innis, Harold A., Empire and Communications, Oxford 1950
Kerckhove, Derrick de, Schriftgeburten. Vom Alphabet zum Computer, München 1995
Leibniz, Gottfried Wilhelm, Die Werke von G. W. L. gemäß seinem handschriftlichen Nachlaß, Reihe 1; Band 5, Hannover 1866
Luther, Martin, Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche, in: Studienausgabe, Frankfurt a. M. 1970
Maresch, Rudolf und Werber, Niels (Hrsg.), Kommunikation, Medien, Macht, Frankfurt a. M. 1999
Schnabel, Johann Gottfried, Insel Felsenburg. Mit Ludwig Tiecks Vorrede zur Ausgabe von 1828, Stuttgart 1979